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Gymnasium Bamberg

„Wir müssen unser Wissen zurücknehmen“

Theatergruppe der Mittelstufe bringt Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“ bedrückend aktuell, tiefgründig, aber auch humorvoll in der Schulkapelle auf die Bühne.
Im Februar 1962 wurde das Drama mit dem Untertitel „Eine Komödie in zwei Akten“ in der Schweiz uraufgeführt. Eingesperrt in einer psychiatrischen Anstalt leben drei Wissenschaftler zwischen Wahnsinn und Realität. So genau ist weder ihnen, noch dem Publikum klar, wo hier die Grenzen liegen. Einer von ihnen, Möbius, hat wohl eine durchaus schreckliche, die Existenz der ganzen Menschheit in Frage stellende Erfindung gemacht, deren Ergebnisse er unbedingt geheim halten möchte, um jegliches Unheil von der Welt fernzuhalten.
Daniel Wrieden beeindruckt unglaublich mit seinem nuancenreichen authentischen Spiel. Den Kampf des Johann Wilhelm Möbius stellt er eindrucksvoll, nicht nur sprachlich, sondern beängstigend wahrhaftig auch mit Mimik und Gestik, die Beklemmung hervorruft und zum Nachdenken anregt, dar.
Aber folgen wir der Handlung dieser Groteske, die Dürrenmatts dramentheoretisches Ziel zum Ausdruck bringt, nach welcher die Handlung eines Theaterstücks erst dann bis zum Schluss gedacht ist, wenn das Drama seine denkbar tragischste Wendung genommen hat.
Wieder einmal ist ein Mord, der zweite, im Sanatorium geschehen. Eine Krankenschwester hat das Zeitliche gesegnet, die Klinikleitung spricht von Unfall, da der Täter, ein Patient, der sich für Einstein hält, hinlänglich bekannt ist, aber eben nicht zurechnungsfähig. Frau Dr. von Zahnd wird von Maja Els einerseits kühl, berechnend und geldgierig, andererseits – am Ende des zweiten Aktes nur allzu offensichtlich – machthungrig, wahrlich geisteskrank und unberechenbar auf die Bühne gebracht. Die Schattierungen dieses Charakters weiß die junge Schauspielerin sehr gekonnt und ausdrucksstark darzustellen.
Mila Patowari möchte als Kriminalinspektor Richard Voß das Verbrechen aufklären, recherchiert zielstrebig, streng und bestimmt, das Gegenüber ohne Gefühlsregungen ausfragend. Erfolg wird er damit nur wenig haben. Die psychisch Kranken und die vermeintlich Gesunden wechseln zu oft ihre Masken.
Luise Müller-Kuller gefällt sehr in einer Doppelrolle. Zunächst gibt sie den etwas naiv wirkenden Hilfspolizisten, der seinen Job liebt, sich über jede Leiche und jedes Utensil, welches auf eine Untat hinweist, unbändig freut. Später wird sie als Exfrau von Johann Wilhelm Möbius mit ihren drei Kindern Herrn Missionar Rose – (schein-)heilig, religiös verklärt und weltfremd von Frieda Jakobi interpretiert - ins Ausland begleiten, um dort mit ihm den Glauben zu verbreiten – immerhin ist sie nun finanziell abgesichert, ist doch das gesamte Vermögen für die Kosten zur Pflege des ehemaligen Ehemannes, jenem sich im Irrenhaus versteckenden Möbius, verloren gegangen.
Jener Möbius (Daniel Wrieden), der vor der Realität fliehen muss, um die Menschheit vor der Zerstörung zu retten, verkörpert in der Begegnung mit seiner Exfrau den Irren bis zur Perfektion, indem er seine „Buben“ nicht mehr wahrnimmt, sich von diesen distanziert hat, um in die innere Migration zu fliehen. Noah Kießling, Leonard Schilling und Johanna Losgar agieren als die drei Söhne Adolf-Friedrich, Wilfried Kasper und Jörg Lukas, die Blockflöten schrecklich quälend – und die Mutter gerät in Verzückung ob ihrer wunderbaren Kinder, welche den Erzeuger, zu welchem sie seit Jahren keinen Bezug mehr haben, nun verlassen werden. Dem Rezensenten war es nicht vergönnt, bei der Premiere dabei zu sein, wurden doch hier die drei Kinder – nach Bekunden vieler – brillant von Martin Stübinger, Jürgen Schlauch und Markus Knebel in Szene gesetzt.
Die Familie ist fort, das Geschehen konzentriert sich zunehmend auf die letzten verbleibenden Bewohner des immer stärker bewachten Traktes der Heilanstalt von Frau Dr. von Zahnd. Herbert Georg Beutler, ein weiterer Physiker tritt auf, wählt für sich gerne den Namen des berühmten Physikers Newton. Ob er dies nur spielt, um sein Umfeld zu täuschen oder um die Gesellschaft vor sich selbst zu schützen bleibt offen. Leonard Mayer versteht es, diesen verworrenen Geist, vollkommen glaubwürdig zu verkörpern, aber auch die Wissenschaftlichkeit zu repräsentieren – für deren Ziele er sogar einen Mord, den ersten in der Anstalt, zu vollbringen bereit war.
Ein Violine spielender Geisteskranker fehlt noch, der Mörder – oder sollen wir doch lieber sagen, der Täter – immerhin ist der arme krank. Linda Klaumünzer geht in ihrer Rolle als Ernst Heinrich Ernesti, der sich gegenüber Außenstehenden als Albert Einstein ausgibt, aber in Wahrheit eben der schon erwähnte Newton sein will, auf. Ein verwirrendes, aber sehr authentisches Spiel hält den Zuschauer lange im Ungewissen.
Oberschwester Marta Boll liebt ihre Arbeit, geht im Zusammenleben mit den Patienten auf, will diesen helfen und Unterstützung geben. Lilia-Sophie Weizenbachs Spiel ist variantenreich und aussagekräftig. Den Handlungsort muss sie verlassen, da schwache Krankenschwestern, die einem Mord zum Opfer fallen könnten, im Krankenhaus nicht mehr gewünscht sind. So kehrt sie als Pfleger McArthur wieder, der die Situation letztendlich auch nicht im Griff hat – bleibt dafür doch nun CHAT, wie Frau Dr. von Zahnd ihre im Hintergrund agierende, Türen verschließende, observierende und regulierende KI nennt.
Im Showdown, wenn man das Ende so bezeichnen will, lassen Newton und Einstein ihre Masken fallen, entpuppen sich als Agenten fremder, gefährlicher Staaten, die einzig und alleine die vom genialen Möbius erdachte Weltformel haben wollen, um die Macht über den Erdball zu erlangen auch auf die Gefahr hin, diesen vollends zu zerstören. Von Zahnd aber schließt die drei Protagonisten ein, ist sie doch die wirklich kranke Größenwahnsinnige, die über alles und jeden bestimmen möchte.
So müssen Möbius, Beutler und Möbius erkennen, dass Erkenntnisse und zerstörerisches, von der Wissenschaft hervorgebrachtes Wissen, in ihrem Fall nicht dazu dient, der Menschheit Wohlstand, Sicherheit und Frieden zu bringen, sondern Verderben, Chaos, Gewalt und Tod. Sie entschließen sich, bis zum Lebensende zusammen in der Klinik zu darben, damit die Menschen leben können. Und auch Mathilde von Zahnd wird es letztlich wohl nicht mehr gelingen, die Welt-Herrschaft an sich zu reißen: es ist die KI, die das letzte Wort hat: „Es ist aus – was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“
Hannes Nordmann zeichnet für den Ton verantwortlich. So mancher sinnvoll ausgewählte Song untermalte – auch ironisch – die Handlung. Anne Homuth und Johanna Losgar brachten die Schauspieler:innen und die Bühne ins richtige Licht. Johanna Kröhl (Freitag) sowie Romy Bayer (Samstag) gaben den Spielenden als Souffleuse die Sicherheit, in der Rolle bleiben zu können. Wozu sicherlich auch die gekonnte Maske beitrug, die Roberta Hrajworonskyj und Patricia Söllner umsetzten.
Ein nachdenklich stimmender, künstlerisch wertvoller und beeindruckender Theaterabend ist vorbei. Anja Kießling hat mit ihrer talentierten, bunten Truppe Großes geleistet und wir als Zuschauer:innen dürfen uns auf die nächste ereignisreiche Aufführung freuen.
Wolfgang Metzner