Wenige Requisiten auf der Vorbühne, ein geschlossener Bühnenvorhang – die Spannung steigt, als mit einem Mal drei schwarz gekleidete Personen mit markant roten Seiden-Schals die Bühne betreten und die wenigen Requisiten verschwinden lassen. Dafür öffnen sie den Bühnenvorhang und man sieht erst einmal – nichts. Man hört aber dafür mit einem Mal die angenehmen sonoren und klaren Stimmen der drei Spielleiterinnen, die das Publikum im Folgenden durch die Geschichte der kleinen Stadt Grover`s Corner führen. Dafür, so werden wir bald begreifen, braucht es – ganz im Sinne der Theatertheorie von Thornton Wilder, einem der bekanntesten US-amerikanischen Dramatiker und Romanautoren, - kaum Requisiten. Vielmehr steht das gesprochene Wort für sich und lässt Raum für Fantasie und das beginnende Spiel der vierzehn äußerst engagierten Schauspielerinnen und Schauspieler, die an diesem Abend in wechselnden Rollen der Stadt auf ansprechende Weise Leben einhauchen.
Unterstützt wird das auf wenige Requisiten reduzierte Setting der Stadt dann aber doch durch gekonnte Licht- und Tontechnik. So erscheint die Bühne – ja nach Stimmungslage – lichttechnisch verwandelt: Morgendämmerung, selbstverständliches Alltagslicht, aber auch romantische Abendstimmungen oder Trauerstimmung vermag das Technikteam mit Leichtigkeit (so scheint es jedenfalls) stets passend zu kreieren. Im Einsatz sind dieses Mal engagiert das Technikteam unter der Leitung von Noah Kießling, unterstützt von Jonas Ulrich. Aber auch die musikalische Untermalung des Stücks wird diesen Abend auf ganz besondere Weise gelingen: Yeva Kravets vermag es mit Hörspiel-Akustik stets für die passende Geräuschkulisse zu sorgen – so hört man beispielsweise das Spülen und Klappern von Geschirr oder aber nimmt den Aufprall geworfener Zeitungen war – und ist das nicht sogar eine Nachtigall, die da singt? Der Zuhörer lässt sich überraschen und ist gleichfalls erfreut über das einheitliche Dress der Städter (passend gewählt für die amerikanische Kleinstadt: Blue Jeans, weißes Hemd und schwarze Schleife) sowie das gekonnte Make-Up, das es schafft einen einheitlichen Akzent in die Gesichter der Städter zu zaubern, der nicht übertrieben, aber doch deutlich gleichförmig gestaltet ist. Josephine Zsigmond und Grete Staudigel zeichnen sich hinter der Bühne für dieses gelungene Spiel mit der Alltäglichkeit verantwortlich. Aber nun zurück zum Spiel:
Die drei Spielleiterinnen, Ada Müller, Laura Postler und Maya Ossade, skizzieren im Folgenden zunächst den Aufbau der Stadt und machen uns nach und nach mit den darin lebenden Personen vertraut. Sprachlich ausgesprochen klar und deutlich und mit eindringlicher Intonation gelingt es den drei Spielleiterinnen gelassen und im scheinbar mühelos choreografierten Gang durch die (kulissenarme) Szenerie von Grovers´s Corner das Leben in dieser Stadt in unserer Imagination entstehen zu lassen. Dabei zeigen sie – antiken Seherinnen gleich – die wirklich wichtigen Fragen des Lebens auf – ganz im Nebenbei, von großer Würde und Gelassenheit geprägt.
So lernen wir also die Alltäglichkeiten in Grover´s Corner kennen. Da wird zunächst einmal die Familie Gibbs vorgestellt. Die Mutter, hervorragend verkörpert durch Theresia Schilling, leistet die Care-Arbeit für die Familie, wäscht, kocht, putzt und träumt in ihrer seltenen Freizeit – ein Abend ist für ihre Chor-Probe reserviert – von Reisen nach Paris und einem anderen Leben. Aber ihr smart und weise von Conrad Morcinek präsentierter Mann, der Arzt des Dorfes, vermeidet es diese Träume zu verwirklichen, weil sonst die Sehnsucht geweckt werden könnte. Stattdessen widmet er sich den Notwendigkeiten des Berufes und heilt die Wehwehchen der Dorfbewohner. Die zwei Kinder George Gibbs (Frederik Schwarzenberger) und Rebecca Gibs (Merle Riemer) – wohlerzogen und nur wenig pubertär – fristen das Schuldasein, ebenso wie die Kinder der Nachbarsfamilie Webb, Emily (Leni Föhrweißer) und Wally Webb (geschickt verkörpert durch Ella Nordmann, die auch als Si Crowell und vor allem als Sam Craig gefällt). Man lernt begleitet von der immer wieder klug kommentierenden Stimmen der Spielleiterinnen noch andere Personen des Ortes kennen, da gibt es den ersten Zeitungsjungen Joe Crowell, den Merle Riemer ebenso dynamisch und ehrlich-sympathisch verkörpert, wie ihre Rolle als Bestattter Joe Stoddard. Bezüglich der genauen historischen Verortung der Dorfgeschichte wird auch Professor Willard befragt, dessen Verwirrtheit Justus Widmer sehr überzeugend darbietet – Satzbrüche, In-Sich-Hineinnuscheln, Nachdenken, Sinnieren und dann Wissen vermitteln – das gelingt ihm wirklich gut. Besonders amüsant wird es, wenn der Milchlieferant Howie Newsome (Anton Franz) die Bühne betritt - mit seinem (imaginären) Pferd Bessie, das selbstverständlich auch am Ende beim Schlussapplaus mit auf die Bühne gezogen wird. Nicht nur Anton Franz gelingt es auf souveräne Weise mittels wenigen Gesten und Bewegungen die notwendigen Requisiten auf die Bühne zu imaginieren. Da kocht und putzt auch Mrs. Webb was das Zeug hält, um ihre Hausfrauenpflichten im frühen 20. Jahrhundert zu erfüllen. Emilia Pickel überzeugt ganz besonders in der Rolle einer pflichtbewussten, nüchtern-pragmatischen Hausfrau und Mutter, die den Realitäten des Alltags stets gelassen in die Augen schaut. Damit ist sie sicherlich auch die perfekte, zurückhaltende Ehegattin an der Seite des dynamischen, weltgewandten Zeitungsredakteurs Mr. Webb (gelungen gegeben von Tobias Voll), der sicher über die politische Lage und die religiösen Richtungen der Zeit referiert und sich auch noch den Fragen aus dem Publikum stellt. Diese beantwortet Tobias Voll souverän, den Welten- und Menschenkenner verkörpernd. Genau so jemand muss Redakteur sein. Uns so haben die Spielleiterinnen uns nun schon fast alle wesentlichen Alltäglichkeiten der kleinen Stadt vermittelt – fast, denn es wird noch ein genauerer Blick auf die Kinder der beiden Familien, Gibbs und Webb, geworfen.
Wie sollte es auch anders sein: Die Faszination für das Erwachsenwerden und all die damit verbundenen Unsicherheiten und ersten Male sind doch ganz typische Alltäglichkeiten einer Kleinstadt– oder eben auch nicht. Dürfen wir doch hier spüren: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
Diesen Zauber zu vermitteln, gelingt an dieser Stelle in ganz besonderer Weise George Gibbs und Emily Webb. Man fiebert förmlich mit ihnen, wenn Frederik Schwarzenberger in seiner Rolle als George ganz vorsichtig die erste Annäherung an Emily wagt, ihre (durchsichtige) Büchertasche trägt und erkennt, dass die Fähigkeit, sich ehrlich zu offenbaren vielleicht der erste Schritt zu einer innigen Beziehung wird. Ganz sanft und vorsichtig entwickelt der Schauspieler dabei seine Figur, die in ihrem Leben zunehmend voranschreitet und sich irgendwann der Liebe wegen gegen den Wegzug aus der Stadt stellt und stattdessen Verantwortung durch Heirat, Haus und Hof übernimmt. Liebe bindet.
Die Geliebte, Emily, wird dabei gelungen durch Leni Föhrweißer verkörpert, die es mit Leichtigkeit und Dynamik schafft, eine intelligente und kritische junge Frau zu verkörpern, die keinen Konflikt scheut. Aber auch sie muss durch die vielen Fragen, die sich im Leben stellen, von Zeit zu Zeit mit Unsicherheiten und Verletzlichkeiten klarkommen – und wer wäre nicht unsicher und verletzlich, wenn einen die Liebe mit 17 Jahren an den Traualtar führt? – eine Tatsache, die die Stadtbewohnerinnen jedoch vollkommen in Entzücken versetzt. Ida Harrer brilliert in der Rolle der begeisterten Mrs. Soames, die das Hochzeitsfest im Überschwang kommentiert: „Herrlich, Hochzeiten sind so schön!“
So nimmt der alltäglich Kreis des Lebens seinen unausweichlichen Lauf – und die Spielleiterinnen nehmen uns mit auf die letzte Etappe des menschlichen Daseins. Zeitsprung – neun Jahre später:
Menschen sind gestorben und vermögen in ihren Gräbern miteinander zu sprechen – und die Neuankömmlinge zu begrüßen: „Tief drinnen gibt es in jedem Menschen etwas, was ewig ist!“ Das soll nun auch die ebenfalls gestorbene Emily begreifen, die der Trauer der Zurückgebliebenen staunend begegnet. Sie will der Warnung der Toten (Justus Widmer, Ida Harrer, Theresia Schilling und Anton Franz spielen die Ernsthaftigkeit ihrer toten Rollen glaubhaft und gelassen) vor der Rückkehr ins Dasein keinen Glauben schenken: „Lebende sind in ihren kleinen Schachteln eingesperrt“ „Wie viele Probleme die Lebenden haben und wie dunkel es ist.“
So schließt das Stück – ein letztes Mal stimmungsvoll kommentiert durch die drei Spielleiterinnen – mit dem Blick auf die großen Fragen des Daseins: Die Schönheit des Lebens liegt in den einfachsten Momenten – daran wird das Publikum erinnert und kann sich freuen, einen wundervollen, abwechslungsreichen und kurzweiligen Moment gerade live miterlebt zu haben. Einfach war diesen Moment zu gestalten jedoch sicherlich nicht, auch wenn alles an diesem Abend mühelos und ganz selbstverständlich wirkt. Ein Meister hat hier seine Hand im Spiel und damit ist nicht der Romanautor Thornton Wilder gemeint: Martin Stübinger hat wieder einmal gezeigt, dass die Inszenierung eines Klassikers, der auf den ersten Blick vielleicht aus der Zeit gefallen scheint, durch gekonnte Regieeinfälle und Herauskitzeln all der begeisternden Fähigkeiten der jungen Schauspielerinnen und Schauspieler zu überzeugen vermag: „Ach, [ist] das Leben nicht […] wunderbar!“ Danke für diesen schönen Moment.
T: A. Kießling, B: A. Nordmann, A. Kießling