Dass der Klassiker „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll alles andere als ein einfach fantasievolles
Kinderbuch ist, stellte die Mittelstufenbühne des E.T.A. mit der Adaption „Alice im Wunderland – und
plötzlich ist alles anders“ Nina Naujoks eindrucksvoll unter Beweis – geht es im Wunderland doch um
die wichtigen Fragen nach sich selbst, seinen Zweifeln und vor allem um die Frage, wie Freundschaft
und Liebe wirklich erhalten werden kann.
Anders als im Original ist Alice bei ihrer Reise durch das Wunderland nämlich hier nicht alleine
unterwegs, sondern sie hat Sam an ihrer Seite. Und so entwickelt sich die Reise zu einem Weg, der
sie voneinander weg und zueinander hinführt, auf dem sie einige Hindernisse meistern müssen um
schließlich den Wert ihrer Freundschaft zu begreifen. Und die Schauspielerinnen der Truppe bringen
diese Botschaft mit so viel Energie, Schauspielkunst und Herzblut auf die Bühne, dass es das
Publikum begeistert. (Das muss bei der ersten Aufführung genauso gewesen sein wie bei der
zweiten, wo dieser Text entstand – allerdings mit teilweise anderen Schauspieler:innen, die nach
Aussage des Publikums genauso toll und dennoch völlig anders gespielt haben.)
Zu Beginn wird gleich klar, womit Alice und Sam, zwei Jugendliche, zu kämpfen haben: Den
Erwartungen der (vorwiegend schwarz gekleideten) Gesellschaft, die ihnen gnadenlos vorhält: „Du
musst dir mehr Mühe geben!“ „So wird nie was aus dir!“ usw. Die beiden taumeln zwischen den
schmerzenden Sätzen hin und her, können sich aber zunächst selbst Halt geben, wie an einer
schönen Spiegelbild-Szene verdeutlicht wird. Sam, hintergründig und oft etwas spitzbübisch von
Anna Rothmann mit viel Kunst dargestellt (am Freitag genauso souverän skeptisch von Daniel
Wrieden präsentiert) , erträumt sich dann mit Alice, die von Anastasia Maximtschuk (am Freitag von
Emilie Kazinskiy) ausdrucksvoll und energiegeladen verkörpert wurde, ein „Wunderland“, das sie sich
farbenfroh ausmalen. Und auch die nun zum ersten Mal erscheinenden weißen Feen (sphärisch
tanzend, fließend und mit hoher Körperspannung von Ruta Bauernschmitt, Anna Lou Winkler und
Joséphine Zsigmond auf die Bühne gebracht) bestätigen, dass in dieser Welt nichts ist, was
beschwert. Eine Traumwelt? Es wird hier allerdings schon klar, dass das Wunderland ganz viel mit der
Realität der beiden zu tun haben wird. Wie im Original kommt nun bereits der Hase (schön hektisch
und stets ängstlich von Maxi Müller mit viel Konzentration durch das gesamte Stück hindurch
verkörpert, am Freitag ebenso ängstlich und dabei zugleich lustig-verzweifelt von Maja Els gegeben)
zum Vorschein, der auf die Dringlichkeit der Unternehmung hinweist – und wieder verschwindet.
Auch die bedrohliche Schwarze Königin, sehr beherrschend, böse und beinahe unheimlich: Rommy
Bayer (bzw. Sarah Brander am Freitag), tritt nun auf: Sie scheint alle Geschehnisse zu kontrollieren
und sagt Alice und Sam eine verdammte Zukunft voraus, woraufhin sie den Kristall – das Symbol für
die Freundschaft der beiden – auf dem Boden zerschmettert.
Die Auswirkung (oder den Grund?) dieser Aktion sieht man in der nächsten Szene, die wieder in der
Realität spielt: Sam und Alice streiten sich, und Alice schließt sich den beiden mobbenden Alpha-
Mädchen der Klasse an. Stella (erschreckend fies und zickig: Ida Schwarzenberger) und Lisa (gemein
und arrogant: Charlotte Guhl). Alices Zwiespalt zwischen Anerkennung durch diese beiden und der
Freundschaft zu Sam zeigt sich, als sie Sam die Hauptarbeit für ein Referat aufbürdet, im Unterricht
dennoch abgelenkt ist und vom typisch streng von Hannes Jacob verkörperten Mathelehrer
gemaßregelt wird. Schließlich erfährt sie, dass Sam einen Autounfall hatte und folgt auch deswegen
dem Hasen in die Traumwelt – wo Sam und sie wieder zusammentreffen. So richtig wissen sie
allerdings nicht, was sie dort sollen, auch wenn die herrlich aufgedrehte Friederike Lang in einer
Paraderolle als Hutmacherin sie begeistert empfängt, ständig zu Tee und Kuchen überredet und ab
nun nicht mehr von ihrer Seite weicht. Überhaupt sorgt Friederike sowohl für viel Situationskomik als
auch für bewegende Momente – toll! (Am Freitag überzeugt durch Spielfreude und Witz in dieser
Rolle Luise Müller-Kuller.) Und jetzt beginnt die Reise durch das Wunderland bzw. zur Rettung von
Sams und Alices Freundschaft. Absolem (freundlich und dennoch geheimnisvoll von Mila Patowari
gespielt) informiert die beiden, dass sie den zerbrochenen Kristall wieder zusammensetzen müssen,
damit das Ganze ein gutes Ende nimmt. Dass das nicht einfach wird, zeigt sich schon daran, dass auch
im Wunderland Lisa und Stella, oft zusammen mit der Schwarzen Königin, versuchen, die beiden
auseinander zu ziehen. Um ihren Auftrag wirklich zu verstehen, konsultiert die Truppe nun Herrn
Punzel, der von Hannes Nordmann (am Freitag von Jesaja Weissenhorn ebenso) würdig und
wissenschaftlich korrekt dargestellt wurde. Er erklärt ihnen, dass der „Kristall des Lebens“, das
Herzstück des Wunderlandes, zerstört wurde – das Symbol für die Freundschaft zwischen Sam und
Alice. Dieser muss in 4 Teilen in den 4 Elementen wieder beschafft und zusammengesetzt werden.
Und diese Reise durch die Elemente wurde nach der Pause sehr eindrucksvoll auf die Bühne
gebracht, wozu maßgeblich auch die Licht- und Soundeffekte des zu Höchstleistungen auflaufenden
Technik-Teams (Alwin Hellwich, Jonathan Wiegandt, Sebastian Losgar, Noah Kießling, unterstützt von
den Ehemaligen Paul Küffner und Jakob Hannusch) beitrugen. Zunächst wird der Kristall des Wassers
der Lorelei, die von Roberta Hrajworonskyj wirklich arrogant und egoistisch gegeben wurde, im
Tauschgeschäft erbeutet, nachdem die von der ganzen Truppe wirklich toll choreographierten
Wellen zunächst erneut Alice und Sam getrennt hatten. Lorelei zieht Sam mit sich, muss aber
einsehen, dass Freundschaft nur entsteht, wenn jemand freiwillig bei einem bleiben will. Dann
kommen sie ins Feuerland – zu Medea, des Teufels Tochter. Zu Beginn ist diese, sehr bestimmend
und resolut von Sam Budagjan auf die Bühne gebracht, abweisend. Als sie aber selbst erfahren muss,
wie es ist, nicht geliebt zu werden, ist sie sehr verunsichert. Denn ihr Vater (immerhin der Teufel…)
will sie am Telefon eigentlich nur loswerden, um weiter als Satan gefeiert zu werden: Eine
Paradeszene für einen rockstarmäßigen Maximilian Vormann. „Bin ich denn so schlimm?“ fragt
Medea sich und verkörpert damit wie alle Wesen der Wunderwelt wieder einen selbstzweifelnden
Charakterzug von Sam und Alice. Sie wagen sich gemeinsam mit der Tochter des Teufels zu lebenden
Gemälden, die sie ertasten und von denen sie im Gegenzug ebenfalls prüfend ertastet werden. Durch
die Bereitschaft, sich dieser unangenehmen Situation zu stellen, andere zu erfahren und sich selbst
zu offenbaren, gelangen sie schließlich zum roten Kristall – und plötzlich ist gar nichts mehr heiß im
Feuerland. Ein weiterer Schritt in Richtung Sicherung der Freundschaft.
Auch wenn die Schwarze Königin immer wieder versucht, die beiden auseinander zu bringen,
kommen sie nun zum Land der Luft, in dem die Mittelstufentruppe in einem Tanz mit Tüchern ein
besonders schön auschoreographiertes Bild der Lüfte entwirft. Und siehe da: Alice und Sam finden
immer besser in die Choreographie hinein, harmonieren immer flüssiger und können den „Luft-
Wettbewerb“ und den dritten Kristall erringen. Die elegante Königin der Lüfte selbst (sehr anmutig
und sicher gegeben von Frieda Jakobi) überreicht den so wertvollen Preis. Eine Niederlage für die
Schwarze Königin, die mit ihrem Gefolge erbost abzieht, während die Weißen Feen darauf verweisen,
was wahre Freundschaft ausmacht – eine bewegende Szene, deren Formulierungen aus der
Probenarbeit der Truppe stammen.
Schließlich fehlt noch das vierte Element, die Erde, verkörpert durch die wirklich unterhaltsam
streitenden Erdwesen Linda Klaumünzer (grundsätzlich positiv-optimistisch) und Lilia-Sophie
Welzenbach (eher abweisend-grummelig), die durch ihre Spielfreude für viel Situationskomik
sorgten. Auch hier wird der Kristall nicht einfach so gefunden, sondern erst, als sich eine Person (in
diesem Fall die Hutmacherin) ihren Ängsten stellt, vor allem der „Angst vor Leuten, die mich nicht
mögen“.
Nun gilt es nur noch das Rätsel der Sphinx (erhaben und rätselhaft von Leonard Mayer gespielt) zu
lösen, was nach der Erkenntnis, dass Sam und Alice das Wunderland ja gemeinsam erschaffen haben
und somit sie beide in ihrer Freundschaft gemeinsam auch die Erfüllung ihrer Aufgabe leisten
können, ein Kinderspiel ist. Und jetzt kann auch der Kristall wieder zusammengesetzt werden, die
beiden umarmen sich, alle Wunderwesen tanzen auf der Bühne – nur die Schwarze Königin, Lisa und
Stella verlassen geschlagen und verbittert das Feld. Das letzte Wort gebührt den weißen Feen, die
alle ermutigen, gegen jegliche Ängste, Widerstände, Erwartungen und egoistischen Tendenzen auf
Liebe und Freundschaft zu setzen: „Glaubt das Mögliche!“
Wie bereits erwähnt, sorgte das Technik-Team erneut für professionelle Licht- und Soundeffekte, vor
allem, was die unterschiedlich farbigen Element-Bereiche der Handlung anging, die auf der selbst für
das E.T.A. sehr großen Bühne wundervoll zum Einsatz kamen. Die Masken, die von Gina Cotton und
Kayla Silva-Bößert in Kleinarbeit auf die Gesichter gebracht wurden, kamen beeindruckend gut zur
Geltung.
Wie man das von Theaterleiterin Anja Kießling inzwischen gewohnt ist, liegt der besondere Wert
dieser Aufführung in der beeindruckenden Teamleistung der Truppe. Viele kleine Ideen, das nahtlose
Zusammenspiel, die oft beeindruckende Choreographie und nicht zuletzt das „Wir-Gefühl“ beim
Schlussapplaus belegen, dass hier mehr als nur ein Stück auf die Bühne gebracht wird. Und das ist
auch der Grund, weshalb „Alice im Wunderland“ kein Kinderstück ist – die Botschaft, die die
Jugendlichen in vielen Probendiskussionen nicht nur für sich, sondern auch für das Publikum
herausgearbeitet haben, ist für alle Altersstufen aktuell.
Bilder: Martin Stübinger